Unbezahlte überstunden Ausbeutung in der Gastronomie

»Das war schon immer so«: Ausbeutung in der Gastronomie

Unbezahlte Überstunden und sind keine Seltenheit im Gastgewerbe und an der Bar. Davon können viele Köche und Kellner ein Lied singen. Vor allem große Hotelketten konservieren eine gefährliche Tradition, in der der Mitarbeiter noch immer den Rang eines Dieners hat, der für seinen Patron schuften muss. Am Ende geht es um nichts Anderes als im großen Stil unbezahlte Überstunden, um Betrug und Ausbeutung, wenn man so will. Eine teils fiktive Geschichte mit unzähligen realen Vorbildern.

Stellen wir uns Ben vor. Ben ist Anfang Zwanzig, hat nach der Schule eine Kellnerausbildung in einem Hotel absolviert und sich auf die Bar spezialisiert. Nach seiner Lehre hat er mit Freude noch ein Jahr weiter in der hauseigenen Bar gearbeitet und sich im Metier gefestigt. Aber Ben kennt die Gesetze der Branche: Nach der Ausbildung bloß nicht zu lange im alten Betrieb verbleiben! „Weiterkommen“ ist das Schlagwort, Erfahrungen sammeln in hochklassigen Häusern, vielleicht ins Ausland oder auf ein Kreuzfahrtschiff. Außerdem ist Ben jung und ungebunden. Er will etwas sehen von der Welt und nebenbei seinen Lebenslauf veredeln. Über unbezahlte Überstunden hat er sich bislang noch nicht viele Gedanken gemacht.

Er wird schnell fündig: eine große Hotelfirma eröffnet ein neues Design-Haus in einer Großstadt. Top-Lage, anspruchsvolles Konzept, ein renommiertes Unternehmen und vor allem: Bartender gesucht! Ben bewirbt sich direkt online. Nur wenige Wochen später ist der Vertrag unterschrieben. Schon bald ist der Tag des Abschieds von der Alma Mater gekommen. Auf in die große Stadt, Erfahrungen und Trinkgeld sammeln!

Ausbeutung in der Gastronomie: Das böse Erwachen

Sechs Monate später sind die Zweifel, die Ben irgendwann kamen, ins Unermessliche gewachsen. Wieder einmal hat er 10 Tage am Stück gearbeitet, jedes Mal 13, 14 oder mehr Stunden. Seit Ben den Betrieb gewechselt hat, hält er sich eigentlich nur noch an zwei Orten auf: In der Bar oder in seinem Bett. Meist fehlt ihm sogar die Zeit, wenigstens ein paar Einkäufe zu machen, damit der Kühlschrank zu Hause gefüllt ist. Wenn er aufwacht, geht er zur Arbeit. Wenn er Feierabend hat, geht er schlafen. Sonst passiert nicht viel. Wenn Ben mal einen Tag frei hat, bleibt er auf der Couch. Oder er geht in eine Bar, um nicht zu vergessen, warum er den Job eigentlich mag.

Die Hotelbar, in der Ben nun arbeitet, ist in der Stadt eingeschlagen wie eine Bombe, der aktuelle Hotspot. Jeden Abend ist die Bar zum Bersten voll, die Kasse klingelt und eigentlich sollten doch alle zufrieden sein. Oder?

Als Ben anfing, hat er sich über die extrem langen Tage nicht gewundert. Klar, eine Neueröffnung bringt Chaos mit sich. Es gibt noch keine Strukturen, alles muss sich erst entwickeln. Außerdem gab die freudige Aufregung Kraft: Die Karte entsteht, das komplette Haus muss vorbereitet werden. Und auch die ersten Schichten haben ihn nicht verwundert, denn es gibt übermäßig viele Gäste und noch keinerlei Routine. Besänftigt wurden Ben und seine Kollegen obendrein immer wieder durch den Hotelmanager: Das seien ja eben die anstrengenden ersten Wochen.

Von der Ausnahme zum Alltag

Die ersten Wochen sind längst vorbei, aber an Bens Alltag hat sich nichts geändert. Schon am frühen Nachmittag ist er im Betrieb, um sich dem Mise-en-Place für den Abend zu widmen. Wenn er damit fertig ist und eigentlich Zeit für eine kurze Pause hätte, wird er meistens in andere Serviceabteilungen bestellt, um auszuhelfen. Auf einer Veranstaltung im Banqueting “ein Menü schicken” oder Buffets vorbereiten. Irgendetwas gibt es immer zu tun für Ben. Schließlich seien ja alle ein Team, wie der Direktor zu betonen nicht müde wird. Ein Team, das chronisch unterbesetzt ist. Nicht, weil jemand krank ist, sondern weil man niemanden mehr einstellt.

Ben und viele seiner Kollegen arbeiten täglich Doppelschichten. Wenn die Bar schließt, putzt Ben mit seinen Kollegen, füllt auf, kümmert sich um den Müll und nötige Bestellungen, während der Barchef abrechnet. Ist die Bar fertig, hat Ben aber immer noch nicht Schluss. Dann geht es wieder in andere Bereiche des Hauses: Bestecke polieren vom am Abend geschickten Menü, außerdem muss im Banquet noch ein Raum neu gestellt und eingedeckt werden. Am Ende fällt Ben im Morgengrauen in sein Bett.

Dann verdient Ben ja wenigstens richtig gut, werden jetzt wohl viele sagen. Bei so viel Stunden! Am Monatsende bekommt Ben sein Gehalt. Darauf sind 170 Stunden verzeichnet. In der Realität ist Ben jeden Monat jedoch fast 300 Stunden im Hotel. Aber auf der Abrechnung tauchen diese Stunden nicht auf. Er arbeitet fast 130 Stunden umsonst. Über 100 unbezahlte Überstunden. Der einzige Ausgleich, den er nehmen darf, sind sogenannte „Gut-Tage”, also quasi zusätzliche Urlaubstage für Wochen, in denen er mehr als fünf Tage gearbeitet hat. Allerdings egal, ob er an diesen Tagen acht oder 14 Stunden gearbeitet hat. Und diese Gut-Tage muss er auch erstmal abbauen dürfen. Dafür ist aber meist keine Gelegenheit.

Die Klausel macht den Unterschied

Die Geschichte von Ben könnte man Außenstehenden problemlos erzählen. Man müsste aus Ben nur „Abdul“ machen, oder „José“, der als Bartender in Ägypten oder auf den Malediven arbeitet. Niemand würde sich ereifern, denn in diesen Ländern werden Arbeitnehmer, so kann man es westlichen Medien ständig entnehmen, ja leider, leider ausgebeutet. Aber Ben arbeitet im Deutschland des Jahres 2014. In Berlin, München oder Köln. Und es gibt schmerzhaft viele Bens.

In ihren Arbeitsverträgen stehen Klauseln, die besagen, dass etwaige Mehrarbeit mit der jeweiligen Auszahlung des Monatslohnes abgegolten ist. Unbezahlte Überstunden als Teil des Geschäftsmodells, wenn man so will. Gerade die gehobene Hotellerie fußt in ihrer Geschäftsstrategie auf dieser Praxis – auf einer Armee von Bens. Flächendeckend findet sich dieses Konzept in Arbeitsverträgen. Merkt man Kritisches dazu an, wird einem meist von älteren Kollegen oder Vorgesetzten lakonisch entgegnet: „War schon immer so.“ Das sei eben Gastronomie und dem müsse man sich fügen. Schließlich gebe es ja außerdem Trinkgeld, und man habe ja den Vertrag unterschrieben, da könne man sich im Nachhinein nicht beschweren. Kann man das wirklich nicht?

Unbezahlte Überstunden: Kein Gejammer, sondern Kritik an unrechter Praxis

In Deutschland gilt das Arbeitszeitgesetz. Dessen Grundbestimmungen müssen zwar für viele Berufsgruppen modifiziert werden, erwähnen wollen wir sie dennoch einmal: Im Regelfall nicht mehr als acht Stunden Arbeit täglich, höchstens zehn Stunden. Ruhepausen und mindestens 11 Stunden Erholungszeit zwischen zwei Diensten sind vorgeschrieben. Überdies muss Mehrarbeit ausgeglichen werden (finanziell oder zeitlich). Deshalb bedienen sich Firmen besagter Klauseln. Dann, so die Annahme, könne der Arbeitnehmer schließlich nichts sagen. Er habe ja den entsprechenden Absatz vor der Unterzeichnung gelesen. Ist das wirklich so?

Die Abgeltung von Mehrarbeit mit dem Gehalt ist ohnehin ein Modell, das sich in einer rechtlichen Grauzone ansiedelt. Entscheidend ist, dass die Regelung deshalb etabliert werden konnte, weil ihre Anwendung aus dem Bereich der Großverdiener rührt. Wer im Jahr ein Salär im hohen fünfstelligen Bereich (oder gar mehr!) verdient, der dürfe, so mehrere Urteile von Arbeitsgerichten, auch davon ausgehen, dass unbezahlte Überstunden anfallen. Dass eine derartige Regelung überhaupt existiert, unterliegt also einem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Bei einem Restaurantfachmann liegt dieser Lohn jedoch häufig bei unter 20.000 Euro jährlich. Und zwar brutto! Und wenn statt der vertraglichen 160 oder 170 Stunden tatsächlich 300 geleistet werden, ist man schnell bei einem Stundenlohn von knapp über 5 Euro für einen gelernten Mitarbeiter. Von Verhältnismäßigkeit keine Spur (siehe auch BGB § 612). Ein solches Vorgehen kann nicht legal sein.

Und das ist es auch nicht.

Die Fälle, in denen klagende Arbeitnehmer Recht bekommen, nehmen zu. Immer wieder erklären Gerichte entsprechende Klauseln, die unbezahlte Überstunden betreffen, für unwirksam, da sie für den Arbeitnehmer eine Intransparenz erzeugen. Denn selbst, wenn der Mitarbeiter unbezahlter Mehrarbeit zustimmt, muss sich diese im Rahmen des Arbeitszeitgesetzes bewegen. Liegt die Arbeitszeit längere Zeit darüber, ist der Arbeitgeber zu einer Vergütung verpflichtet. Das Bundesarbeitsgericht gab kürzlich einem Lagerarbeiter Recht, der die Abgeltung von knapp 1.000 bis dahin unbezahlten Überstunden eingeklagt hatte – mit Verweis auf jene Intransparenz der Klausel (BAG Az. R 765/10). Zu einem ähnlichen Fall kam das LAG Hamm, das einem Nachtwächter die Vergütung von 540 Stunden zusprach (Az. 13 Sa 512/12). Wichtig ist hier: Der Arbeitnehmer muss die Mehrarbeit und damit unbezahlte Überstunden nachweisen können. Denn der Beklagte ist nicht zur Herausgabe derartiger Dokumente verpflichtet (LAG Rheinland-Pfalz Az. 7 Sa 622/10). Werden beispielsweise händische Stundenzettel geführt, ist es ratsam, sich von diesen Unterlagen am Ende einer Woche oder eines Monats jeweils ein Foto anzufertigen. Jedenfalls, sofern diese Papiere sauber geführt werden, auch dort gibt es viele Ungenauigkeiten – der Autor selbst hatte Kontakt zu Bar-Mitarbeitern eines großen Hotels, deren Schichten meist um ungefähr 16:30 Uhr begannen. Auf dem Stundenzettel jedoch wurde als Dienstbeginn stets – so die Anweisung des Managements – 20 Uhr eingetragen. Die Arbeitszeit – und mit ihr unbezahlte Überstunden – waren also auf dem Papier nicht existent.

Ein deutliches Signal

Diese Urteile sprechen eine klare Sprache. Die gängige Praxis, Überstunden zu verklausulieren, verstößt also gegen geltendes Recht. Dieses Vorgehen ist, mit drastischen Worten formuliert, schlicht illegal. Ungesetzlich. Freilich argumentieren die Arbeitgeber erwartungsgemäß, dass man sonst Stellen abbauen müsse. Die Zeiten seien schwer. Auch das hochpreisige Gastgewerbe sei einem schonungslosen Preiskampf ausgesetzt. Es ist kurios: Alle wollen ein Stück vom Premiumsegment, aber jeder will der Günstigste sein. Doch guter Service durch qualifiziertes Personal kostet Geld.

Große Hotelkonzerne geben astronomische Beträge für Werbung und Bonusprogramme aus, aber nicht für ihr Personal. Ein mit dem Autor befreundeter Bartender, der unter solch ausbeuterischen Bedingungen arbeitet und nach einem Kreislaufzusammenbruch mehrere Tage im Krankenhaus lag, wurde von seinem Vorgesetzten per WhatsApp (!) aufgefordert, er möge sich bitte wieder gesundschreiben lassen. So könne er seinen krankheitsbedingten Ausfall gegenüber dem Team „wieder gut machen“. Einen Besuch am Krankenbett gab es nicht. Der Mitarbeiter degeneriert zur funktionellen Ware.

Leistung hat ihren Preis

Firmen und Konsumenten müssen begreifen: Gute Gastronomie hat ihren Preis. Leider sind immer noch ausreichend junge Fachkräfte bereit, sich derartigen Umständen auszusetzen. Aber viele nehmen daran Schaden. Und das kann die Branche nicht wollen. Es wird sicherlich noch einige Klagen, Revisionen und Ähnliches brauchen, bis sich die Branche ändert. Personal ist keine Ware, sondern eine Investition, die Verantwortung mit sich bringt.

Ob Ben in seinem Betrieb bleibt, oder ob er sich um einen neuen, humaneren Job bemüht, bleibt offen. In seinem Hotel gibt es natürlich auch viele Auszubildende. Im Eingangsbereich prangt deswegen stolz das Siegel der IHK: „Qualität durch Ausbildung“. Man kümmert sich hier offenbar aufopferungsvoll um den Nachwuchs.

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