Am Dirty Martini können sich die Geister hervorragend scheiden

Filthy is Foe: Das Kuriosum des Dirty Martini



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m Dirty Martini können sich die Geister hervorragend scheiden. Falsch zubereitet, ist er eine Grässlichkeit sondergleichen. Ebenso sollte man ihn nicht zu sehr akademisieren. Mit Beachtung einiger Details und kleinen Verbesserungen nämlich wird aus dem Oliven-Underdog eine Köstlichkeit. Ein kleines, persönliches Kramen in der Erinnerungskiste von MIXOLOGY-Chefredakteur Nils Wrage.

Ich habe in meiner Zeit als Bartender nur vier oder fünf Dirty Martinis gemixt, und zwar alle an einem einzigen Abend. Davor war dieser Drink für mich eine reine Papierleiche. Etwas, wovon ich wusste. Etwas, dem ich aber ansonsten auch keine weitere Aufmerksamkeit widmen wollte oder musste. Ein Martini mit ein, zwei zusätzlichen Löffeln Olivenlake. Zudem üblicherweise meist mit Vodka statt Gin, wie es in seinem Heimatland, den USA des 20. Jahrhunderts, ohnehin eher üblich ist. Tja nun. Man sehe mir also das mangelnde Interesse nach.

Das änderte sich an einem Abend vor rund dreizehn Jahren, als Mäxx bei mir an der Bar saß. Mäxx hier nur der Aussprache halber, denn Mäxx war ein knorriger, bäriger Amerikaner und schrieb sich eigentlich Maxx. Aber wirklich mit zwei x, so sagte es seine Visitenkarte. Mäxx war irgendein hohes Tier im globalen Yacht-Business und immer mal wieder für ein paar Wochen bei uns im Hotel in Kiel, weil er in der Nähe dienstlich zu tun hatte. Wenn er da war, kam er praktisch jeden Abend in die Bar. Manchmal, so erzählte er mir, habe er parallel auch noch ein Zimmer in einem Hotel in Hamburg, weil sein Arbeitsort auf halber Strecke zwischen beiden Städten lag. Er fuhr dann abends in jeweils die Stadt, auf die er gerade mehr Lust hatte. Ich glaubte ihm das ununwunden, denn Geld spielte bei Mäxx eine bestenfalls untergeordnete Rolle. Zwar ließ seine Kleidung eher darauf schließen, dass er Hausmeister einer Highschool in Wyoming oder North Dakota war, doch die teuren Hotels und die erheblichen Mengen sehr teuren Rums, die er allabendlich mit Coke Zero vernaschte, unterstrichen die Annahme seiner finanziellen Potenz ebenso wie das typisch amerikanische Trinkgeld von jeweils mindestens 25 Prozent, gepaart mit der rhetorischen Frage is that alright, Nils?

Wasser zum Drink trank er nie.

Auch mit dem Dirty Martini darf man spielen. Muss man sogar
Auch mit dem Dirty Martini darf man spielen. Muss man sogar

Dirty Martini

Zutaten

7 cl London Dry Gin

1 cl sehr trockener Wermut

1 cl Lake von eingelegten grünen Steinoliven (nicht in Öl oder Essig eingelegt!)

1 BL Absinth (optional)

1 Dash Olive Bitters oder Celery Bitters (optional)

Als der Dirty Martini in mein Leben trat. Irgendwie.

Dann jedenfalls gab es diesen erwähnten Abend. Als Mäxx in die Bar einbog, nahm ich reflexhaft die entsprechende, sozusagen mäxximale Rumflasche in die Hand. Doch er winkte ab. Er fühle sich heute nicht like Rum, sagte er. Er habe Lust auf einen Dirty Martini. Jetzt keinen Fehler machen, dachte ich, jetzt bloß keinen Mist bauen, das kann in die Hose gehen. Jede:r Bartender:in kennt das Problem, wenn ein Gast, der sonst immer, immer, wirklich immer das Gleiche trinkt, plötzlich was Anderes möchte: Aus einem über Wochen, Monate oder gar Jahre wunschlos glücklichen Stammgast kann innerhalb weniger Minuten sowas wie ein enttäuschter neuer Gast werden.

Ich stellte also die obligatorische Frage nach Vodka oder Gin und erhielt die erwartbare Vodka-Antwort – Mäxx war kein Aromentrinker. Und natürlich bone dry solle der Drink sein, ergänzte er. Etwa 8 cl tiefgekühlten Grey Goose, einen Spritzer Noilly Prat Dry und 2 Barlöffel Salzlake aus dem Olivenglas später stand der gerührte Drink in einer frostigen Coupette vor dem stämmigen Mann auf dem Tresen, daneben eine Schale mit den zugehörigen Steinoliven. Der einzige Unterschied zum normalen Martini war, dass der Drink auch nach ein paar Augenblicken nicht vollständig aufklarte. Ich hätte ihn allerdings nicht dirty genannt. Eher vielleicht cloudy. Oder hazy.

Mäxx nahm also einen Schluck und ich fragte, ob’s in Ordnung sei. It’s okay, bemerkte er gewohnt lässig, aber verhalten, und er konnte eine gewisse, leicht väterlich wirkende Enttäuschung in seinem Gesicht nicht verbergen. Schon als ich den Drink rührte, hatte sich Skepsis bei ihm gezeigt. Er hatte sich die Sache anders vorgestellt, das schien nicht der Dirty Martini zu sein, den er sich erhofft hatte. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, den Drink ausgesprochen zügig zu leeren. Mäxx blieb Mäxx, immerhin. Als das Glas leer war, fragte ich ihn, ob er noch einen Drink wolle, vielleicht ja doch wieder einen Rum-Coke. Nein, sagte er, er bleibe für heute beim Dirty Martini. Und dann sagte er: But this time make it filthy.

Filthy. Aber warum, verdammt nochmal?

Mir wurde schlagartig klar, was gemeint war. Hier ging es nicht um einen dezenten, brine laced Martini, dem man sozusagen eine kleine Spur Umami unter die Eleganz jubelt. Hier ging es nicht um dirty, also schmutzig, hier ging’s um filthy: dreckig, schäbig, schmuddelig. Ich nahm also den Shaker und goss bestimmt 2 cl Lake hinein. Dann muddelte ich drei, vier Oliven komplett dazu und kippte eine etwas größere Menge Vodka als beim ersten Mal in die stückige Brühe. Dazu ein Barlöffel Wermut. Dann wurde geschüttelt, was Mäxx‘ Gesicht bereits aufhellte. Ich hatte offensichtlich gründlich gemuddelt, denn trotz doppelten Abseihens schwebten zahlreiche Olivenkleinstpartikel durch den trübmilchigen, grünstichigen Drink im Glas. Schon als ich Mäxx den Cocktail hinstellte, war alle Enttäuschung aus seinem Gesicht gewichen. So nämlich hatte er sich das vorgestellt. Ein breites, leicht selbstgerechtes Grinsen nahm sein Antlitz in Beschlag. Er nahm dann noch zwei oder drei davon, bevor er wieder knapp 30 Prozent Trinkgeld gab und aus der Bar schlenderte.

Selbstverständlich ist vollkommen klar: Der Dirty Martini, wie Mäxx ihn sich vorstellte, schmeckte absolut entsetzlich. Vom dritten hatte ich mir einen Probierschluck abgezweigt, und er war eine Beleidigung für sämtliche Beteiligten. Für den Vodka, die Oliven, den Wermut. Aus drei an sich schönen Dingen wurde etwas Fürchterliches. Es war, um ein bei Cocktails oft bemühtes Bild zu verwenden, die Demonstration dessen, wie mehrere Zutaten sehr viel weniger als ihre gemeinsame Summe ergeben konnten.

Ich lernte demnach an diesem Abend mit Mäxx zwei Dinge: Erstens, dass ein wenig bewusste Selbstdemütigung zum rechten Zeitpunkt das Einkommen eines Studenten durch horrendes Trinkgeld deutlich aufbessern kann. Und zweitens, dass ich den Dirty Martini so natürlich nicht stehen lassen konnte. Es kam eine Art Beschützer-Instinkt in mir auf. Kein Drink kann im Grunde seines Wesens so mies sein, wie es der Dirty Martini à la Mäxx war – und den ich fatalerweise zubereitet hatte.

Der Dirty Martini zwischen Suchmaschinen und Cocktail-Historie

Über den Dirty Martini ist insgesamt viel geschrieben worden, obwohl er nie in den Kanon der wirklich akzeptierten Drinks eingetreten ist, nie ein Massendrink wurde. Er polarisiert. Viele Leute, Bartender:innen eingeschlossen, können ihm nichts abgewinnen. Gleichzeitig hat er eine kleine, aber treue und feste Fangemeinde. Er sitzt zwischen den Stühlen: Die Website von Rewe liefert halt eine Rezeptur, weil man sich dort eben Gedanken um Suchmaschinenoptimierung macht, ebenso haben sich aber auch Koryphäen der Cocktail-Historie, wie etwa der Journalist Robert Simonson, mit ihm befasst. Weder einen Schöpfer noch einen konkreten Entstehungszeitpunkt samt Verschriftlichung kann man ihm zuordnen, was für das Narrativ eines Cocktails noch immer hilfreich ist. Zwar hält sich zäh die These, der frühere US-Präsident Franklin D. Roosevelt (der als passionierter, aber miserabler Hobby-Bartender galt) habe den Dirty Martini in den 1930ern „erfunden“. Spätestens seitdem der Oxford Companion to Spirits & Cocktails im Jahre 2022 betont hat, dass es den Brauch, einem Martini Olivenlake zuzusetzen, mindestens seit 1901 gibt, muss man die sowieso nach Mythos schmeckende FDR-Geschichte aber letztgültig zu den Akten legen.

Wichtig: der Dirty Martini ist nicht sperrig. Und auch nicht schlimm salzig.

Will man sich dem Wesen des Dirty Martini wirklich widmen, dann gilt es, sich zunächst von der Vorstellung zu lösen, dass es sich bei ihm um einen sperrigen Drink handelt, der im eigentlichen Sinne salzig oder nach Oliven schmeckt. Für sowas gibt es schließlich andere Ungeheuerlichkeiten. In Zeiten, in denen ein paar Tropfen Salzlösung als natürlicher Geschmacksverstärker im Cocktail für viele Bars schon lange eine Selbstverständlichkeit sind, sollte man gedanklich weiter sein.

Zuallererst muss man klarstellen, dass ein echter Dirty Martini mit Gin gemacht werden sollte. Die Lake mit ihrem Salzton und der oft geringfügig fleischigen Note der Oliven braucht die Spitzen und die frische Crispyness eines London Dry Gin als Gegengewicht. Der Wermut allein schafft das nicht, zumal Dirty Martinis traditionell meist wirklich am sehr trockenen Ende der Fahnenstange angesiedelt sind. Auch der Vodka taugt nicht dazu, die Lake zu balancieren, er verstärkt sie eher noch. Zusätzlich muss man bedenken, dass der Drink, vor allem, wenn er à la minute zubereitet wird, schlicht und replizierbar gehalten werden sollte. Der extreme Aufwand, den der berühmte US-Bartender und Unternehmer Naren Young Mitte des letzten Jahrzehnts für seine Variante namens Olives 7 Ways betrieben hat, können sich nur die wenigsten Bars erlauben – von Privatpersonen ganz zu schweigen.

Youngs Drink steht beinahe exemplarisch für den mitunter schrillen Aufwand, der in dieser Phase der Bar-Renaissance – etwa zwischen 2010 und 2014 – für einzelne Drinks betrieben worden ist. Kalkulatorisch dürften die meisten davon inzwischen als absolutes Fiasko ihren Weg in die ewigen Jagdgründe gefunden haben. Anders sieht es im Jahr 2024 in puncto Dirty Martini und hausgemachten Zutaten in Anbetracht des Batching-Zeitalters aus. Batching bietet die Möglichkeit, auch sehr fein zu dosierende Zutaten in den Cocktail einzubringen, ohne ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Arbeit mit Zutaten wie Olive Bitters oder hausgemachtem Oliven-Destillat – womöglich direkt ein Oliven-Gin aus dem Rotovap – eröffnet hier neue Welten zur Weiterentwicklung des „klassischen“ Dirty Martini.

Die Lake: das Zaubermittel

Bei dessen DNA bleiben wir auch noch ein bisschen. Genauer gesagt: bei der Salzlake. Schließlich ist sie die Schlüsselzutat, die einen Dirty Martini ausmacht. Denn während es Mäxx in der oben erzählten Geschichte eher darum ging, etwas zu trinken, das durch seine völlige geschmackliche Überfrachtung eine saftige Menge Vodka auf die schlimmstmögliche Weise kaschieren soll, ist die Einarbeitung von Salzlake in einen Martini eher ein Schritt, der den Drink auf dezente Weise eine Spur breiter und vielleicht sogar erwachsener macht. Wie bereits erwähnt, ist Salzlösung inzwischen eine gängige Zutat an der Bar. Sie gibt vielen Cocktails eine Spur zusätzlicher Tiefe, ohne selbst wirklich vorzuschmecken.

Die Lake im Dirty Martini setzt diesen Gedanken fort, aber in stärkerem Ausmaß. Zunächst dadurch, dass sie nicht Dash-weise, sondern eher in Barlöffeln oder gar Zentilitern dosiert wird. Zusätzlich ist das Oliven-Aroma ohnehin Bestandteil der typischen Martini-Formel: Ob man ihn nun mit oder ohne Olive trinkt – der Mischung aus Dry Gin, Wermut und eventuell Bitters wohnt häufig ganz von allein eine spezifische, zwar feine, aber deutliche, ölig-ätherische Würzigkeit inne, die einen leicht herzhaften Eindruck evoziert. Die Salzlake, die auch weiteres Umami in den Drink transportiert, hebt somit im besten Fall einen Aspekt hervor, der sowieso schon auf natürliche Weise im Cocktail anliegt. Um ein möglichst unverfälschtes Resultat zu erzielen, sollte gründlich auf die Güte der Oliven und der Lake geachtet werden. Minderwertige Produkte enthalten häufig Zusätze wie Essig, Alginsäure, Ascorbinsäure (Vitamin C) oder sogar Mononatriumglutamat. Hochwertige grüne Steinoliven sind üblicherweise in einer Lake aus Wasser und Meersalz eingelegt, meist mit etwas Milchsäure, die aber in genießbaren Oliven ohnehin vorliegt. Wer besonders exakt vorgehen will, kann für fertig gekaufte Oliven eine neue, eigene und komplett reine Lake ansetzen. Hier geht man für gewöhnlich von 10 g reinem Meersalz pro 100 ml Wasser aus.

Bitters und Absinth nicht vergessen

Da Dirty-Martini-Trinker:innen, wie schon erwähnt, üblicherweise eine sehr trockene Auslegung bevorzugen, sollte man beim Wermut auf eine Qualität der Richtung Extra Dry zurückgreifen. Noilly Prat Dry etwa, noch immer sowas wie der Go-To-Wermut für klassische Dry Martinis, ist eigentlich schon zu süß. Die Lake braucht als Sparringspartner einen sehr trockenen Wermut, der eine weinige Nuance und eine gewisse Brightness, aber keine wirkliche Süße einsteuert, die den Cocktail aus dem Gleichgewicht schubsen würde.

Zwei kleine aromatische und eigentlich naheliegende Lichtschwerter zum Schluss: Die deftige Komponente der Lake lässt sich sehr elegant durch einen kleinen Dash Oliven- oder Sellerie-Bitters ergänzen. Und weil Fenchel und Anis sowieso klassische Olivengewürze sind und ein Absinthe-Rinse in den meisten Fällen vieles besser macht, empfiehlt es sich, die Coupette vorab mit einem Hauch Absinth zu aromatisieren – unbedingt ausprobieren, das ist mehr als der letzte Schliff in einem tollen Drink, den man tatsächlich öfter trinken sollte.

Daran zeigt sich, was ein Beschützer-Instinkt alles hervorrufen kann. Jahrelang hat mich der Dirty Martini nicht im Geringsten interessiert. Er musste erst vor meinen Augen (und durch meine Hände) massakriert werden, damit ich begann, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Was mir da sonst verlorengegangen wäre! In meiner Zeit als Bartender habe ich nur die eingangs erwähnten vier oder fünf Dirty Martinis gemixt, alle an einem Abend. Danach, für mich privat oder Freunde, waren es dafür einige mehr. Und von seinem Verwandten, dem ebenso speziellen, aber fantastischen Gibson, haben wir noch gar nicht gesprochen. Das machen wir dann ein andernmal.

Lediglich dies sei klar: Wir werden ganz sicher nicht Mäxx nach seinem Lieblingsrezept fragen.

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