Hendrik Giersiepen ist durch Zufall zu Mezcal gekommen – und der Zufall hat ihn nicht mehr losgelassen. Heute arbeitet der gebürtige Rheinhesse für Casa Lumbre und spricht im Interview über Sinn und Unsinn aktueller Mezcal-Regularien – und wohin die Reise für die begehrte Agavenspirituose gehen könnte und sollte.
Es war einer der interessantesten Vorträge auf dem Club Cantina am 15. April in Hamburg: Hendrik Giersiepen sprach über die Gesetzeslage auf dem mexikanischen Agavenmarkt und übte teilweise deutliche Kritik an den offiziellen Regularien für Mezcal. Giersiepen, der 2016 für ein studentisches Pflichtpraktikum nach Mexiko ging und 2018 für seine Abschlussarbeit „The Spirit of Agave: Mezcal“ den Önologen-Nachwuchspreis 2018 im Bereich Getränketechnologie erhalten hat, arbeitet heute für Casa Lumbre, das ausgewählte mexikanische Produkte unter einem Dach versammelt.
MIXOLOGY: Lieber Hendrik, erzähl zunächst bitte kurz, wie sich Dein Weg in die Spirituosenwelt gestaltet hat.
Hendrik Giersiepen: Ich habe zuerst in Mannheim BWL und Kulturwissenschaften studiert. Gleichzeitig hatte ich durch meine Herkunft in der Nähe von Mainz viele Freunde mit eigenen Weingütern. Ich habe dann auch in meinem Studienberuf gearbeitet, aber da war immer das Gefühl, vielleicht dort nicht richtig zu sein. Das Gefühl wurde immer größer, das gesagt hat: Wein oder Getränke sind irgendwie doch Dein Ding. Ich bin dann darauf aufmerksam geworden, dass es an der Hochschule in Geisenheim den Studiengang Getränketechnologie gibt. Da habe ich für mich einen Weg gesehen und das habe ich als zweites Studium angefangen.
MIXOLOGY: Wann kam das spezielle Interesse an Agavenbränden?
Hendrik Giersiepen: Ich hatte während des ersten Studiums meine jetzige Frau kennengelernt, und zwar in Argentinien. Schon da haben die Mexikaner immer die besten Parties geschmissen. Wir hatten allerdings erstmal klar den Plan, dass wir als Paar gemeinsam in Deutschland starten. Einfach weil es einfacher ist, man kann in Deutschland unabhängiger ins Leben starten. Es war aber auch klar, dass wir irgendwann in Mexiko Wurzeln schlagen wollen, einen Freundeskreis aufbauen. Dafür war mein Studiengang in Geisenheim auch tatsächlich ein perfekter Startpunkt, weil es mir ermöglicht hat, dort nach einem Auslandspraktikum und einem Betrieb zu suchen, an dem ich meine Thesis schreiben kann. Ich bin dann zufällig auf meinen jetzigen Arbeitgeber, Casa Lumbre, gestoßen. Ich hatte damals mit der Agavenwelt nicht viel zu tun. Nur durch eine Flasche Mezcal, die mir mein Schwiegervater Jahre davor mitgebracht hatte, hatte es bei mir das typische Erlebnis gegeben: Wow, Agavenbrände können ja gut schmecken. Zu dem Mezcal gab es auch ein kleines Büchlein, das mein jetziger Chef (Ivan Saldaña, Anm. d. Red.) geschrieben hatte. Später, als ich mich bei ihm beworben habe und wir uns kurz darauf auf dem BCB kennengelernt haben, hat sofort die Chemie gestimmt.
»Zuerst muss ich dazu sagen, dass es konstruktive Kritik sein soll. Aber natürlich müssen sich gesetzliche Vorschriften Kritik gefallen lassen. Der erste Kernpunkt meiner Kritik bezog sich auf die geschützte Herkunftsbezeichnung, also bei Mezcal die D.O., und zwar weil man dadurch immer sowas wie eine Art Exklusivität konstruiert, mit der man Akteure ausschließt.«
— Hendrik Giersiepen
MIXOLOGY: Du hast in Deinem Vortrag Mitte April beim »Club Cantina« teilweise recht deutliche Kritik an den offiziellen Regularien für Mezcal geübt. Wo liegt der Hauptansatzpunkt Deiner Kritik?
Hendrik Giersiepen: Zuerst muss ich dazu sagen, dass es konstruktive Kritik sein soll. Aber natürlich müssen sich gesetzliche Vorschriften Kritik gefallen lassen. Der erste Kernpunkt meiner Kritik bezog sich auf die geschützte Herkunftsbezeichnung, also bei Mezcal die D.O., und zwar weil man dadurch immer sowas wie eine Art Exklusivität konstruiert, mit der man Akteure ausschließt. Das ist auch in Mexiko so. Dort wurden bestimmte Regionen, die eine sehr lange Mezcal-Tradition haben, einfach nicht zum Teil der D.O. erklärt. Man schließt zudem Realitäten aus: Die Agave selbst hält sich ja auch nicht an D.O.-Grenzen.
MIXOLOGY: Gibt es da ein Beispiel?
Hendrik Giersiepen: Ein Beispiel wäre Jalisco mit seiner Vielfalt an Agavenbränden neben Tequila, etwa Tusca und Raicilla. Es gibt hier auch Betriebe wie Chacolo oder Miguel Angel Partida, die seit Generationen ihr Produkt Mezcal nennen, es aber als »Destilado de Agave« in den Verkehr bringen. In Chihuahua, Sonora, Hidalgo, Chiapas etc. gibt es auch Agavenbrände, die hierunter fallen können und teilweise ihre Produkte traditionell als Mezcal bezeichnen.
MIXOLOGY: Welche weiteren Kritikpunkte an der D.O. und der Normierung, der NOM, gibt es Deiner Meinung nach?
Hendrik Giersiepen: Neben der D.O. gibt es die NOM, also den Vorschriften-Katalog vom Consejo Reguladro del Mezcal. Die NOM definiert sehr detailliert, was Mezcal ist und wie er herzustellen ist, sie NOM setzt außerdem – wie jede Regelung dieser Art – bestimmte Grenzwerte fest, was ja an sich gut ist. Im Falle von Mezcal sind diese Grenzwerte jedoch nach meinem Empfinden unzureichend recherchiert. Oder anders: Die Vorschriften stellen kein realistisches Bild von dem dar, was Mezcal wirklich ist.
MIXOLOGY: Du hattest im Zuge dessen von einem »engen Korridor« gesprochen.
Hendrik Giersiepen: Genau. Im Prinzip wurden willkürliche Grenzwerte festgelegt. Die aktuellen Werte sind aber nicht begründet. Zum Vergleich: Die EU-Spirituosenverordnung legt z.B. Grenzwerte von Methanol danach fest, was typisch für die Rohware ist. Wie viel Methanol ein Destillat enthält, hängt nämlich sehr stark vom jeweiligen Rohstoff ab. Auch in Europa hat man sich sicherlich Gedanken über die Gesundheit gemacht und offensichtlich bei 1500mg/100ml reiner Alkohol keine direkte Gefahr gesehen. Für Mezcal wiederum sind durch das CRM gerade einmal 300 mg als Maximalwert definiert. Dabei handelt es sich für Mezcal auch bei höheren Werten um den naturgegebenen Normalfall. Das meine ich mit dem verengten Korridor. Was mich bei den Normen von Mezcal und Tequila ebenfalls stört, sind behördliche Maximalwerte für flüchtige Komponenten wie Ester und sogenannte höhere Alkohole…
MIXOLOGY: … also sozusagen Maximalwerte für Geschmack?
Hendrik Giersiepen: Richtig, so kann man das sagen. Siehe etwa High Ester Rum, das ist halt einfach: Bumm! Geschmack! Da stellt sich doch die Frage: Warum legt man einen Höchstwert für starke Aromatik fest? Die europäische Norm etwa dreht das nämlich um, sie legt keinen Höchstwert, sondern Minimalwerte fest, die mindestens erreicht werden müssen. Was auch Sinn ergibt, denn schließlich soll es ja kein Neutralalkohol sein, sondern nach dem Ausgangsprodukt schmecken. Natürlich gibt es nicht den einen Geschmack, aber es muss halt Geschmack geben. Der Korridor, den das CRM vorgibt, weist mitunter Werte aus, die teilweise eher an Vodka erinnern.
»Natürlich schmecken Weine sehr unterschiedlich, aber es herrscht eine grundlegende Vorstellung davon vor, was Wein überhaupt ist. Und selbstverständlich gibt es im Wein zahlreiche geschützte Herkunftsbezeichnungen. Die wurden aber sozusagen jeweils auf eine schon bestehende Grundkategorie drauf konstruiert. Bei Agaven ist diese Grundkategorie nie wirklich definiert worden«
— Hendrik Giersiepen
MIXOLOGY: Eine weitere Besonderheit der Mezcal-Regularien ist ja, dass auch die Herstellungsweise sehr exakt vorgegeben wird, also auch, welche Instrumente und Geräte in welcher Art und Weise eingesetzt werden sollen.
Hendrik Giersiepen: Ja, das ist ebenfalls schwierig, insbesondere wenn es um die Vorschriften für Mezcal Artesanal geht, also um »handwerklich« hergestellten Mezcal. Da treffen die schon genannten Punkte auf weitere Einschränkungen: Du musst den erwähnten engen Korridor einhalten und bist andererseits auch extrem eingeschränkt in Bezug auf Herstellungsmethoden und Arbeitsanlagen. Auch solche Einschränkungen gibt es beispielsweise in Europa für keine Spirituose.
MIXOLOGY: Eine weitere wichtige These in Deinem Talk war der Verweis darauf, dass es den mexikanischen Agavenbränden – egal ob Tequila oder Mezcal – trotz der starken Regulierung an einer Art klarer Basis mangele. Du hast als Gegenbeispiel Birnenbrand gebracht, bei dem als vorrangiges Attribut schlicht die Birne als Grundlage dient, die auch für eine geschmackliche Identität steht. Ist die Herkunft am Ende gar nicht so zentral, wie die behördlichen mexikanischen Regularien uns weismachen möchten?
Hendrik Giersiepen: Das ist fast ein philosophisches Thema, würde ich sagen. Ich rolle es mal so auf: Gerade bei Spirituosen ist Herkunft eine komplexe Sache. Wir können zum Beispiel auch heute noch nicht sicher nachweisen, wann in Mexiko erstmals Destillation betrieben wurde. Demnach ist die Herkunft eher ein kulturelles Mischmasch. Natürlich können wir aber sagen, dass der Ursprung der Agavenpflanzen auf dem amerikanischen Kontinent liegt. Der nord- und mittelamerikanische Ackerbau begann vor rund 10.000 Jahren unter anderem durch die Kultivierung von Agaven. In welcher Form, ist nicht vollständig geklärt, aber wir kennen archäologische Funde, die das grundsätzlich nachweisen.
MIXOLOGY: Haben die Hersteller und Verbände von mexikanischern Agavenspirituosen versäumt, das klarer zu kommunizieren?
Hendrik Giersiepen: Ich denke, sie haben versäumt, ein Grundverständnis dafür zu erzeugen, was eine Agavenspirituose eigentlich genau ist. Mit dem Beispiel von eben: Bei einer Birne weiß man praktisch überall auf der Welt, wie die ungefähr schmeckt. Ein anderes Beispiel ist Wein. Natürlich schmecken Weine sehr unterschiedlich, aber es herrscht eine grundlegende Vorstellung davon vor, was Wein überhaupt ist. Und selbstverständlich gibt es im Wein zahlreiche geschützte Herkunftsbezeichnungen. Die wurden aber sozusagen jeweils auf eine schon bestehende Grundkategorie drauf konstruiert. Bei Agaven ist diese Grundkategorie nie wirklich definiert worden. Das Interessante ist: Vor rund 100 Jahren gab es erste Ansätze, Tequila in einer abgegrenzten Weise zu definieren, damals noch als Mezcal de Tequila. Das ist in meinen Augen zumindest teilweise eine vertane Chance gewesen, Mezcal schon damals als generische Gattung zu etablieren und über Grenzen hinaus bekannt zu machen: Was ist eine Agave überhaupt und wie schmeckt sie? Noch heute denken viele Leute bei Agaven doch irgendwie »an diesen Kaktus aus Mexiko«. Und ich will niemanden verurteilen, der das nicht weiß. Ich stelle einfach fest: Das Grundverständnis fehlt, im Gegensatz zu anderen Spirituosen oder Wein und Bier.
MIXOLOGY: Kurios, oder?
Hendrik Giersiepen: Ja. Aber genau deshalb versuchen aktuell sogar Hersteller von Agavenbränden aus mexikanischen Regionen, die nicht zu Mezcal oder Tequila gehören, noch weitere D.O.s zu kreieren und zu schützen. Weil sie keine Wege oder Chancen sehen, ihre Brände auf anderem Wege, also einfach als »Agavenspirituose«, erfolgreich am Markt zu etablieren. Insofern sieht es eher nicht so aus, als ob das eben skizzierte, andere Verständnis für die Agave als Frucht irgendwann eintreten wird.
»Diese faszinierende Pflanze hat auch auf extrem widrige Bedingungen eine Antwort, sie produziert Biomasse und Zucker und schützt Böden vor Erosion, und hat auch abseits von Spirituosen viel Potential als Nutzpflanze. Wenn im Norden von Mexiko ein Blizzard mit -20°C durchgeht, hält die Agave das aus. Sie erträgt aber auch 50°C und wochenlange Trockenheit im Hochsommer.«
— Hendrik Giersiepen
MIXOLOGY: Vor allem, da man mit der derzeitigen Vermarktung bei vielen Verbraucher:innen offene Türen einrennt. Wie viel europäische und nordamerikanische Sehnsucht nach vermeintlich authentisch mexikanischer Exotik steckt Deiner Meinung nach im aktuellen Boom von Mezcal und Tequila? Denn diese Argumentation mit Herkunft und auch handwerklicher Ursprünglichkeit bedient ja exakt das.
Hendrik Giersiepen: Auf jeden Fall, das spielt eine große Rolle. Ich kann da natürlich primär für mich selbst sprechen. Aber das holt Dich schon ab, wenn Du mal eine Mezcal-Brennerei besuchst und das alles siehst. So eine rustikale Destillerie hat schon einen Zauber, der aufs Produkt übergeht. So ähnlich wie beim Besuch in einer alten fränkischen Brauerei, die anders aussieht als ein industrieller Großbetrieb. Damit kann man bei Verbrauchern natürlich punkten, wenn man das nach vorne stellt. Dazu kommt aber, denke ich, auch die Assoziation oder die Annahme, an der Entdeckung von etwas Neuem teilzunehmen, sich sozusagen als Verbraucher neues Wissen anzueignen, während man gleichzeitig das Gefühl hat, etwas sehr Ursprüngliches zu erleben. Das mündet auch in das einfache Bild vom »bösen« und großen Tequila, der für den Massenmarkt steht – und ihm entgegen der kleine Bruder Mezcal. Das ist sowas wie ein semantisches Konstrukt, mit dem man das alles gut aufladen kann. Selbstverständlich werden da Klischees bedient. Und das wiederum macht es dem individuellen Produzenten auch schwer, sich alternativ zu positionieren. Das ist dann auch ein Kreislauf, weil man irgendwann wieder bei so willkürlichen Festlegungen ankommt wie bei der Definition von »Handwerklichkeit«.
MIXOLOGY: Das klingt jetzt schon recht pessimistisch.
Hendrik Giersiepen: Vielleicht habe ich es auch zu pessimistisch dargestellt. Ich versuche es nochmal anders: Ich finde es gut, wenn diese Geschichte von Ursprünglichkeit und Handwerklichkeit erzählt wird. Ich finde lediglich, dass sie nicht durch eine Norm erzählt werden sollte – sondern individuell durch jeden Produzenten.
MIXOLOGY: Wäre es am Ende sinnvoller, wirklich die Agave als Pflanze ins Zentrum der Bemühungen zu stellen – und nicht die Herkunft? Schließlich hast Du beim erwähnten Vortrag auch darauf hingewiesen, dass Agave nicht gleich Mexiko bedeutet.
Hendrik Giersiepen: Ja, auf jeden Fall. Das ist auch ein Gedanke, der schon von manchen Leuten voran gedacht wird. Ein wichtiger Punkt ist einfach diese faszinierende Pflanze, die auch auf extrem widrige Bedingungen eine Antwort hat, die Biomasse und Zucker produziert, die Böden vor Erosion schützt und auch abseits von Spirituosen viel Potential als Nutzpflanze hat. Wenn im Norden von Mexiko ein Blizzard mit -20°C durchgeht, hält die Agave das aus. Sie erträgt aber auch 50°C und wochenlange Trockenheit im Hochsommer. In Zeiten, in denen viele Gegenden arider, also trockener werden oder in denen generell mehr Extremwetter vorkommt, könnte das für Landwirte eine teils sehr wichtige und reizvolle Alternative sein. In Italien zum Beispiel gibt es inzwischen ausgedehnte Wildagavenbestände. Warum sollten also Brenner nicht ausprobieren, daraus zu brennen?
MIXOLOGY: Dann drängt sich zum Abschluss folgende Frage auf: Wird deutscher oder italienischer Agavenbrand in 30 oder 40 Jahren womöglich eine Normalität sein?
Hendrik Giersiepen: Könnte ich mir vorstellen. Es würde mich auf jeden Fall reizen. Am Ende ist es angeblich auch immer die Konkurrenz, die das Geschäft belebt. Wobei ich gleichzeitig niemals absprechen würde, dass der kulturelle Hub für Agavenbrände definitiv in Mexiko liegt und auch dortbleiben wird. Schließlich gibt es mittlerweile auch sehr viele deutsche Whiskyhersteller, ohne dass die Kategorie Scotch darunter leidet, nehme ich zumindest an. Insofern würde ich keine Gefährdung sehen, wenn der Fall tatsächlich eintritt. Und wenn es Agavenbrände von außerhalb der normierten mexikanischen Regionen geben würde, wären die auch nicht an die genannten Einschränkungen gebunden.
MIXOLOGY: Lieber Hendrik, wir danken Dir herzlich für das Interview.