Was vor 15 Jahren als Rum-Experiment begann, ist heute fester Bestandteil der Schweizer Brennerei Humbel

„Kirschbrand im Rumfass reifen lassen, das können sie in Jamaika nicht.“

Was vor 15 Jahren als Melasse-Experiment begann, ist heute fester Bestandteil der Schweizer Brennerei Humbel. Pascal Kählin über die Cask Adventures und die Kombination von traditioneller Obstbrennerei und Rumherstellung.

Lorenz Humbel führt die gleichnamige Schweizer Spezialitätenbrennerei im aargauischen Stetten bereits in dritter Generation. Gegründet wurde sie 1918 von seinem Großvater Max, dessen Hochkamin heute von Störchen bewohnt wird. Max Humbel legte den Grundstein für die traditionsreiche Obstbrandkultur und entfachte eine familiäre Leidenschaft, die sich bis heute in der Leitung durch Lorenz Humbel fortsetzt. Schon zu Großvaters Zeiten standen die vielfältigen Schweizer Kirschensorten im Brennpunkt der Familie, und diese Ausrichtung gilt auch heute noch. Lorenz Humbel konzentriert sich vor allem auf sortenreine Brände aus typischen Schweizer Kirschensorten wie Basler Langstieler, Rote Lauber, Wildkirschenbrand oder Schattenmorelle, um nur einige wenige zu nennen. Im Laufe der Zeit kamen dann noch andere Obstsorten wie Birnen oder Pflaumen hinzu, und sogar Dattel- oder Rüeblibrände oder Gin und Whisky prägen das Portfolio der 107 Jahre alten Brennerei mit vier Brennöfen.

Bio-Pionier Humbel

Vor genau 30 Jahren erweiterte Lorenz Humbel das Sortiment um Bio-Destillate und Bio-Importprodukte wie Tequila oder Cognac, um ein breites wie nachhaltiges Brand-Angebot bieten zu können. 15 Jahre später folgt das nächste Experiment. Seine Idee ist, auch Bio-Rum für die Gastronomie zu brennen. „Aber man kann sein Herz nicht an zu viele andere Sachen verlieren. Außerdem darf man sich als Obstbrenner nicht verzetteln“, erinnert er sich zurück. Deshalb holte er sich damals Pascal Kählin als Partner an die Seite. „Lass‘ uns probieren, Rum zu brennen“, so sein Impuls im Jahre 2009. Die Fruchtsaison war vorüber. ein idealer Zeitpunkt und geeignete Bedingungen während der Wintermonate, wenn die Brennöfen nach der Obstbrandsaison ruhen. Zeit für ein Experiment, das mit 1.000 Kilogramm importierter Melasse den Beginn einer gemeinsamen Reise begründet.

Nach diesem ersten mehr oder weniger gelungenen Versuch reisten Lorenz Humbel und Pascal Kählin nach Kuba. Der Bio-Anspruch war von Beginn an ein zentrales Kriterium, die Bio-Zertifizierung obligatorisch. Über einen in Kuba ansässigen Schweizer Bio-Inspektor gelangen nach dieser Reise schließlich 20.000 Kilogramm Melasse nach Stetten. „Melasse hat keinen Stress und keine Saison. Sie lässt sich problemlos in Tanks lagern“, so Kählin.

Was darauf folgt, ist der Beginn eines bis heute andauernden Abenteuers und zugleich das erste Produkt, ein weißer, kubanisch inspirierter Bio-Rum namens Guajira. „Unsere Idee war, eine Mix-Alternative zu herkömmlichen Pouring-Rums wie Havana Club zu kreieren, die für Daiquiris oder Mojitos geeignet sind. Rums mit auffälligem Aroma oder so genannte 'Stinke-Rums', die ich persönlich spannend finde, waren damals noch kein Thema“, denkt Kählin zurück.

Der Guajira ist das Herzstück der Humbel-Rums
Schnaps seit 1918, Rum seit 2010

Mehr als „gut, aber langweilig“

Für den Mitinhaber der Zürcher Bar 63, der Total Bar und Betreiber des Spezialitätenfachhandels J.B. Labat aber ist der Guajira fast zu glatt: „Alle fanden ihn gut, aber für mich war er fast zu sauber.“ Kählin begann zu spielen. „Ich wollte zeigen, dass Schweizer Rum mehr kann, als nur 'gut, aber langweilig' zu sein. Also habe ich begonnen, mit Fässern zu experimentieren, und so entstand Cask Adventure“, erklärt der Karibik-Liebhaber und Kenner der vielfältigen Zuckerrohr-Destillate. Gemeinsam mit Masterblender Marc Rohner begannen sie das Spiel mit der Lagerung des Guajira in Wein-, Mezcal-, Bier-, Cognac- oder Fruchtbrandfässern aus verschiedenen Holzarten und unterschiedlicher Größe, darunter viele Fässer aus Kählins Eigenimporten, als Single Cask Abfüller Cave Guildive. Die traditionelle Obstbrennerei wird zur Spielwiese. „Es ist ein Riesenprivileg, und wir hatten immer freie Hand. So ein Projekt hätte nie funktioniert ohne das Wissen, das wir hier gesammelt haben. Das Fermentationsfass ist das beste Beispiel“, sagt er.

Dieses besagte 400 Liter-Fass ließ sich Lorenz Humbels Sohn Luis für eine Sonderedition eines Kirschbrandes zum 100-jährigen Bestand der Brennerei anfertigen. Das Fass wurde bewusst so konstruiert, dass es eine offene Fermentation zulässt. Eine Methode, die spannende Aromen während des Fermentationsprozesses hervorbringen kann, aber auch „Risiken, Fehler oder Überraschungen“ birgt, die ein Obstbrenner grundsätzlich ausschließen will, wie Kählin erklärt. Anstatt das Maischefass nach dem Fermentationsprozess wie üblich zu schwefeln oder wegzuschmeißen, entschieden sich Kählin und Luis Humbel für ein weiteres Experiment: Sie füllen es mit Cachaça. Das Ergebnis war so unerwartet wie auffällig. „Durch die vorangegangene Kirschbrand-Maische ist ein knallpinker Cachaça herausgekommen“, erzählt Kählin. Doch: „Was als einmaliges Experiment begonnen hat, ist ein wichtiger Bestandteil unserer Cask Adventures und ein Stück weit zur Signatur der Brennerei geworden“, sagt Kählin. „Die Idee, die Fässer immer wieder neu zu befüllen und ganz eigene Aromen entstehen zu lassen, ist im Grunde das Herzstück der Cask Adventures“.

Einer flog übers Storchennest: Der Hauptsitz der Spezialitätenbrennerei Humbel

Das saubere Denken ausschalten

Mittlerweile lagert und reift das Team Rum in rund 40 Fässern, die zum Teil für Kirschbrand verwendet wurden, und sogar umgekehrt. Diese gemischte Nutzung bringt spannende Synergien hervor und zeigt, wie sich die Welten der Obstbrennerei und der Rumherstellung gegenseitig befruchten können, und wie die Verbindung beide Welten voranbringt. Während Obstbrenner auf absolut saubere Destillate mit klar definierter Aromatik achten, lebt Rum oft gerade von Unregelmäßigkeiten oder Überraschungen, die durch offene Vergärung, Nachvergärung oder die Zugabe von Schlempe entstehen. „Ein Fruchtbrenner ist darauf fokussiert, Fehler auf jeden Fall zu vermeiden und ein sauberes Produkt zu erhalten. Beim Rum muss er lernen, dieses saubere Denken auszuschalten“, erklärt Kählin die unterschiedliche Herangehensweise.

Was auf den ersten Blick also nicht zusammenzupassen scheint, ergänzt sich in der Praxis gut und wirkt für beide Seiten bereichernd. „Der Obstbrenner will ein sauberes Produkt ohne Fehler. Beim Rum ist das anders, und das Spannende entsteht eben manchmal erst durch das 'Unsaubere'. Diese offene Denkweise und Experimentierfreude auch in eine Fruchtbrennerei bringen zu dürfen, ist reizvoll“, so Kählin.

Für Lorenz Humbel war die Produktion von Rum von Anfang an eine Herzensangelegenheit. Er ist den Versuchen auch von Anfang an offen gegenübergestanden und überzeugt von dem Potenzial der hybriden Fass-Nutzung: „Die Fermentationsfässer sind sogar sauberer, wenn danach hochprozentiger und desinfizierender Alkohol gelagert wird, und beim Brennen haben wir festgestellt, dass die im Holzfass vergorenen Fruchtbrände etwas besser werden.“

Die Basis aller Cask Adventures bei Humbel bildet der weiße klare Guajira. Noch „sauberer“ und dem kubanischen Stil noch näher ist der aktivkohlefiltrierte Bio-Rum Ron de Marinero, der gemeinsam mit Guajira das weiße Bio-Rum-Portfolio der Brennerei abbildet. „Beim weißen Rum macht es einen großen Unterschied, ob er in einer 40-stöckigen Kolonnenbrennerei in Nicaragua, in einem 700 Liter-Pot Still in Jamaica oder in einem Schweizer Brennofen mit drei Böden gebrannt wird“, erklärt Kählin. Das schaffe völlig unterschiedliche alkoholische Grundstrukturen. „Einen Jamaika-Rum kriegt man aus einem Schweizer Brennhafen nicht, das ist technisch unmöglich. Man macht ja auch kein Steak in der Mikrowelle.“ Doch was sich über die Brenntechnik nicht steuern lässt, könne die Reifung oder Lagerung auffangen. „Kirschbrand im Rumfass und Rum im Kirschfass reifen zu lassen, das können die Jamaikaner zum Beispiel nicht. Das ist ein Vorteil, den wir hier nutzen.“

Pascal Kählin (links) und Humbel-Masterblender Marc Rohner (rechts)

Mutige Finishes

Dieses Spiel mit unterschiedlichen Fassarten braucht Zeit, Erfahrung und unterschiedliche Fässer. „Wer gealterten Rum mit einem komplexen Profil oder gar mit Fruchtbrandcharakter will, muss bereit sein, zehn bis fünfzehn Jahre zu warten“, sagt Kählin. „Fruchtbrände hingegen sind nach dem Brennen im Grunde fertig.“ Die Kombination aus Kählins Leidenschaft, Humbels Wunsch nach einem Bio-Rum und der Offenheit des gesamten Teams hat den Weg für dieses experimentelle Vorgehen bereitet. Die mutigen Finishes passieren heute wechselseitig, mal reift ein Rum im Zwetschgenfass, mal ein Kirschbrand sogar im Hampden-Cask.

Was 2010 aus reiner Leidenschaft begonnen hat, ist 15 Jahre später eine eigenständige Rum-Manufaktur innerhalb einer Schweizer Traditionsbrennerei. Eine Manufaktur, die fest eingebettet ist in ein Haus, das seit über einem Jahrhundert dem Obst- und insbesondere dem Kirschbrand verpflichtet ist und diesen kontinuierlich weiterentwickelt hat. In Stetten ist also eine Rumproduktionsstätte mit Fermentationsfässern und ungewöhnlichen Cask-Finishes entstanden, die in dieser Form wohl niemand in der Schweiz vermutet hätte. Mit Pascal Kählin hat Humbel zudem einen offiziell ausgewiesenen „Rum Attaché“ an Bord, der das Projekt inhaltlich prägt. „Nach 15 Jahren des Probierens und Lagerns steht nun neben dem weißen Guajira endlich auch ein gelagerter Guajira Solera im Sortiment. Er besteht aus Rums, die zwischen drei und acht Jahren reiften, und rundet so das Sortiment auf“, so Kählin.

Die kubanische Melasse aus den Anfangstagen ist längst verbraucht. Heute stammt der Rohstoff von biologisch bewirtschafteten Zuckerrohrfeldern in Paraguay, auch weil Direktimporte aus Kuba sich als zu aufwändig erweisen, und die Bio-Zertifizierung über den Zwischenhandel nicht garantiert werden kann.

Garantiert ist nur: Das Rum-Abenteuer geht weiter.


Fotocredit
Humbel

 


 

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