Michele Heinrich ist für seine aromatischen Abenteuer mindestens so bekannt wie für seine Vorliebe für Kampfsport. Wer aber ist der Tüftler aus dem Kinly-Keller – und wie kam er dahin? Wir haben am Punch-Tisch mit ihm Platz genommen.
Das Tageslicht legt die Schattenseiten des Frankfurter Bahnhofviertels frei. Irgendwo, zwischen Zwie- und Rotlicht, gibt es eine Tür, daneben eine Klingel ohne Schild. Wer hierherkommt, weiß, wieso er das tut. Einer der Gründe öffnet gerade die Tür: Michele Heinrich. Großgewachsen, muskulös, kurze blonde Haare. Aus den Ärmeln des schwarzen Samtpullovers kriechen Tattoos hoch bis zu seinen Fingerspitzen. Er ist einer, der hier – sogar hier in der Elbestraße – locker als Türsteher durchgehen könnte.
Im Kinly ist es dunkel. Immer.
Eine steile Treppe führt hinunter in den Keller, der eine Bar ist, genauer gesagt die bei den MIXOLOGY Bar Awards 2020 gekürte „Bar des Jahres Deutschland“. Die The Kinly Bar ist dunkel, auch um drei Uhr mittags. Die Tür ist zu. Immer. Dabei ist das Speakeasy-Konzept auch aus der Not entstanden: Die Lage verlangt doch ein wenig Kontrolle ab.
Noch sind es nicht die Gäste, die den Raum mit Wärme füllen. Glühbirnen, die vereinzelt von der Decke baumeln, müssen fürs Erste reichen. Die hölzernen Sitze, die an ein altes Kino erinnern, sind hochgeklappt. Hinten, am Punch-Tisch, manövriert Michele Heinrich inzwischen die Lederstühle Richtung Boden. Zwei Heizbläser untermauern sein Poltern. So etwas wie die Ruhe vor dem Sturm gibt es hier vermutlich selten.
Ohnehin ist heute Mittag alles ein bisschen anders als sonst. Denn Michele Heinrich wird selbst am großen Holztisch Platz nehmen, das macht er sonst sehr selten. Und anstatt zuzuhören, wird er erzählen. Von sich, von seiner Arbeit als Bartender, die er als Handwerk bezeichnet, nicht als Kunst, wie es manch anderer tut. Aber ebenfalls kein Handwerk im klassischen Sinne, sondern „eines mit Preisen und Transzendenz“, das Emotionen auslösen könne. Und es wird sich schnell zeigen, dass Beharrlichkeit der Schlüssel zu seinem Erfolg war.
Michele Heinrich ist kein Musterknabe des Systems
Doch beharrlich ist bekanntlich der, der ein Ziel hat. So war der heute 32-Jährige nicht immer ein Musterknabe im Sinne des Systems. Nach dem Abi in Aschaffenburg ging der gebürtige Niederbayer nämlich erst einmal nach Frankfurt an die Uni, um ein Studium anzufangen, das er dann nicht fertig machen wollte. „Von einer großen Schule in eine noch größere zu kommen, um dann noch mehr zu lernen, das war einfach nichts für mich,“ erklärt Michele Heinrich mit seiner ruhigen Stimme – und einem breiten Lächeln.
Hätte er sich anders entschieden, hätte er vielleicht nicht in einer Kneipe angefangen und seine Leidenschaft für die Bar niemals entdeckt. Er hätte nicht von der Roomers Bar gehört, nichts von ihren Auszeichnungen und sich so nicht in den Kopf gesetzt, dort irgendwann mal hinter der Bar zu arbeiten.
Beobachtet man Michele Heinrich heute beim Mixen, wirkt er auch im Vergleich zu vielen anderen renommierten Kollegen auf eine spezielle, besondere Weise vertraut mit all den Flaschen, den selbstgemachten Sirupen und Infusionen, mit Gläsern und Bechern, als habe er nie etwas anderes gemacht. Als habe er das alles niemals richtig lernen müssen. Seine Hände bewegen sich rasend schnell, jedes Klackern der Eiswürfel hat einen Rhythmus und seine hellen Augen scheinen dabei jederzeit den Überblick zu behalten.
Durchbruch mit dem Absturz des Kassensystems
Doch bevor Michele Heinrich hinter der Bar landete, startete er erst einmal eine Ausbildung im Roomers zum Hotelfachmann. Ab Tag eins habe er alle damit „vollgelabert“, unbedingt hinter Bar zu wollen – und fand seine Wege. Sonntags nach Dienstschluss, wenn die Bar ihre Putzschicht hatte, half er mit. Sein Durchbruch kam mit einem Absturz des Kassensystems, wodurch Not am Mann war und der Azubi zum Spülen einspringen konnte. „Ich habe richtig Gas gegeben und gezeigt, dass ich was kann,“ erinnert er sich. Von da an durfte er öfters kommen. Ständig habe er „den Jungs Fragen gestellt“ und so die Rezepturen verinnerlicht. Er lernte schnell, gewann sogar einen ersten Award.
Als sein drittes Lehrjahr begann, das war im Frühjahr 2015, öffnete die The Kinly Bar. Nach Feierabend an der Rezeption im Roomers fuhr der damals 27-jährige zwei bis drei Mal in der Woche in die Elbestraße, um auszuhelfen. Die Entscheidung, nach der Ausbildung in die The Kinly Bar zu gehen, fiel nicht schwer. „Ich konnte dort freier arbeiten,“ sagt er. Und er konnte seine Kreativität ausleben, für die er bekannt ist und die ihn später zum Gesicht der Bar machte und ihm etliche Preise einheimste.
Das Leben des Jetsetmichi
Michele Heinrich zeigt sein Gesicht auch gerne bei Instagram. Er nennt sich jetsetmichi, teilt Fotos vom vielen Reisen, gemeinsam mit seiner Freundin, von Drinks . Mal sieht man ihn beim Kampfsport, der sehr viel Raum in seinem Leben einnimmt. Er sieht sich selbst auch als Marke, stärkt diese bewusst. Er ist gut vernetzt, auch abseits der medialen Welt, zählt viele Freunde in der Frankfurter Barszene.
Überhaupt ist das Frankfurter Publikum mit seiner dichten Barszene auf hohem Niveau ohnehin verwöhnt. Und sie entwickelt sich weiter kontinuierlich, genauso wie die Bars an sich. Auch die The Kinly Bar hat sich in den viereinhalb Jahren verändert. „Wir sind viel extremer geworden, viel zugespitzter,“ sagt Michele Heinrich, und meint damit vor allem die Aromen, die er immer weiter in den Vordergrund stellt und völlig neu kombiniert, „das funktioniert vor allem durch die Techniken, die wir verwenden.“
Hinten im Flur, hinter einer unscheinbaren Tür, steht jenes Gerät, das dem Kinly mitunter seinen einzigartigen Ruf beschert: der Rotationsverdampfer. In einem großen Glaskolben liegen nasse Minzeblätter. Michele Heinrich lässt den Kolben langsam ins Wasserbad absinken, präsentiert die Funktionsweise und das fertige Destillat. Hört man den Barkeeper nun über Chemie reden – als gebürtiger Bayer sagt er freilich K-emie –, spürt man seine Leidenschaft für die Materie umso deutlicher. Er nennt das „Auge fürs Detail“.
Lust darauf, mehr zu sehen und zu entdecken
Schon bei der Rezeptentwicklung überlegt er sich, wie die Aromen möglichst gut herauskommen. Mit welchen geschmacksgebenden Molekülen er zu tun haben wird, welche Größe sie haben, ob sie besser im Sous-Vide, im Rotationsverdampfer oder im Topf landen werden. Ob man so einen Schnickschnack brauche? „Natürlich nicht. Genauso wenig wie die Gourmetküche. Aber das ist genau das Richtige für die, die Lust haben, mehr zu sehen und etwas anderes zu entdecken,“ sagt er.
Überhaupt gibt die Gourmetküche dem Bartender sehr viel. Freizeit, Freude und Inspiration zum Beispiel. Fragt man ihn nach Restauranttipps, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Er scheint einer zu sein, der gerne teilt.
Michele Heinrichs Hommage an Italien
Es ist spät geworden. Die Bar hat inzwischen geöffnet, die Glühbirne im Durchgang leuchtet auf: Es hat geklingelt. Michele Heinrich, inzwischen trägt er Hemd, geht die Treppen hinauf und kommt mit ein paar Gästen zurück. Würde nun einer von ihnen eine Corn Colada bestellen, könnte er die Essenz von Nostalgie schmecken.
Michele Heinrichs italienische Oma kochte nämlich seit jeher in Bergamo Polenta mit Kaninchen und Rosmarin. Aus diesen Erinnerungen ist ein präzise abgestimmtes Ergebnis aus Mais, Apfel und Kräutern entstanden, welches das Potenzial hat, viele neue Erinnerungen zu schaffen. An einen außergewöhnlichen Drink. Und eine wilde Nacht in der Elbestraße, in der inzwischen seichtes Rotlicht auf den Asphalt geworfen wird.