QR-Barkarten haben Vorteile – aber keine schönen

Steins Steter Tropfen: QR-Barkarten haben Vorteile – aber keine schönen

Unser Autor Martin Stein ist ein Cocktailreisender, der seine Zeit am liebsten in Bars verbringt. In seiner Serie „Steins steter Tropfen“ geht es um gute Getränke und Gedanken, die sie verbinden. Diesmal: Die Gefühllosigkeit von QR-Menüs.

Es wird ja hin und wieder gemunkelt, dass diese Kolumne der Tummelplatz von jemandem sei, für den seit der Erfindung der Limette nichts Gescheites mehr auf dem Cocktailsektor passiert sei – ja, es gibt solche Einzelmeinungen.

Wobei es einem die Moderne, gerade jetzt, nicht besonders leicht macht, sich mit ihr anzufreunden. Da muss man gar nicht groß auf das politische Weltgrauen schauen; gerade denke ich an die Krankheiten. Ich war noch dabei (also, intensiv sympathisierend dabei), als die Masern quasi ausgerottet waren, jetzt sind sie bald wieder am Start wie die Backstreet Boys. Dauert noch zwei Jahre, dann gibt’s wieder Kinderlähmung. Und dann erst die ganzen neuen Krankheiten! Sowas wie Corona, das hatten wir damals ja überhaupt nicht!

Covid-Spätfolge QR-Barkarte

Immerhin scheint Covid ausgestanden, auch wenn die Spuren noch überall spürbar sind, und nicht nur, weil man immer mal wieder eine Atemmaske in einer alten Jacke findet. Die Barwelt hat es auf den Kopf gestellt, Existenzen ruiniert, das Ausgehverhalten verändert. Ich mochte das alte Ausgehverhalten. Gut, wenig überraschend.

Mit einer weiteren Nachwirkung der Pandemie komme ich aber auch nicht besonders gut zurecht: mit den QR-Barkarten. Oder auch mit den Menü-Tablets. Wer zum Beispiel so eine QR-Karte hat, ist Susanne Baró Fernández in ihrer Bar Timber Doodle in Berlin, und wenn man anderer Meinung ist als Susanne Baró Fernández, dann begibt man sich auf arg dünnes Eis, weil es wenig klügere, kompetentere und reflektiertere Persönlichkeiten hinter den Tresen der Welt gibt. Nicht zufällig war sie während der Pandemie ein Quell der Hoffnung, Information und Inspiration, und dennoch hält sie an diesem Wurmfortsatz der Nasenpest fest.

Ihre Argumente sind, wie nicht anders zu erwarten, klar, stringent und unwiderlegbar. Die Vorteile liegen auf der Hand: weniger Verschwendung von Ressourcen, leichtes Aktualisieren, internationale Zugänglichkeit. Und billiger ist es auch, was man in diesen Zeiten des wachsenden Kostendrucks keinesfalls unterschätzen darf.

Es gibt tatsächlich wohl nur ein einziges Argument, das für das alte Papier-Modell spricht:  

Das Gefühl.

Die digitale Karte als Stilbruch

Ich gebe zu, auch dabei mag es sich um das Empfinden eines Vorgestrigen handeln, aber immerhin lese ich meine Zeitung auch nicht mehr auf Papier und habe ein Netflix-Abo. Bloß, aus irgendeinem Grund komme ich in der Bar mit der digitalen Barkarte nicht klar, und das hat keine technischen Gründe.

Vielleicht ist das (mein) Hauptproblem dabei, dass es in einer Bar eigentlich fast nur um Gefühl geht; das wird in der allgemeinen Rezeptpfriemelei oft vergessen. Jede Bar, die etwas auf sich hält, versucht, nach außen hin ein kompaktes und stimmiges Bild abzugeben, und in diesem Bild ist die digitale Karte meistens ein Stilbruch, ein Farbklecks, ein Insektenkadaver. Die QR-Karte ist die Loriotsche Nudel im Gesicht der Bar.

Ich öffne diese Karten notgedrungen, wische lustlos nach links und nach rechts, bis ich irgendwas sehe, was sich trinkbar anhört, und dann lege ich sie wieder weg. Anschließend bestelle ich entweder auf Empfehlung oder aus dem klassischen Kochbuch (schon mal vom Naked & Famous gehört? Gar nicht schlecht, habe ich mir sagen lassen). Es hat etwas Lästiges, sich durch die Getränke zu swipen wie durch Tinder-Profile. Wirkt auch oft ähnlich unattraktiv. Und bedürftig. Ich finde es schwierig, auf so einer Grundlage eine flüssige Partnerwahl zu treffen, auch wenn augenscheinlich alles dasteht, was man wissen will.

Informationsgehalt vs. emotionalen Faktor

Eine Barkarte soll aber in der Hauptsache genausowenig Informationen transportieren wie die Bar selbst Getränke. Es geht um Emotionen. Es ist tatsächlich wie in einer Partnerschaft: Da können noch so viele rationale Gründe für eine Person sprechen; wenn’s am Gefühl hapert, wird’s eben problematisch. Es mag verblendet romantisch klingen, aber Bar ist Romantik, ansonsten könnte wir ja alle sehr gut zuhause saufen.

Man muss sich ja nur ansehen, was da in den höheren (und zugegebenermaßen finanziell jenseits von Gut und Böse aufgestellten) Ligen der Barwelt angezündet wird, wenn es um die Präsentation des Getränkeangebots geht. Da werden ganze Bücher gedruckt, Schallplatten gepresst, ich habe schon Agaven gesehen, in deren Blätter die Namen der Drinks gelasert waren, und mein persönlicher Favorit ist nach wie vor das Gadget, mit dem Rémy Savage im Artesian seine zwei-Komponenten-Drinks vorstellte: als Art drehbaren DNA-Strang, der aufrecht in einem massiven Messingblock steckte. Kostenpunkt 600 britische Pfund. Pro Stück.

Einmal abgesehen von der Unmöglichkeit, so etwas bei sich mal eben nachzubasteln, war der Effekt beeindruckend: in einer Bar, deren Klientel sich vom kleinen Cocktailtouristen bis hin zum Milliardär bewegt, sitzt klassenübergreifend jeder am Tisch und spielt mit dem Ding. Informationsgehalt: eher bescheiden, dafür aber der emotionale Faktor enorm – und damit hat der Drink eigentlich schon gewonnen. Der menschliche Spieltrieb, die Neugierde, die Freude an etwas Schönem, das öffnet die Türen für einen genussvollen Abend schon sehr, sehr weit. Da muss man sich am Shaker eigentlich gar nicht mehr so bemühen.

Natürlich geht alles leichter mit einem Zentner Geld in der Hinterhand, aber man kann auch mit ein wenig Einfallsreichtum vieles wettmachen. Ich glaube, es war die Zürcher Bar Lupo, die einmal einen Restposten von Pop-Up-Bilderbüchern mit dem Thema Cocktailbar (frühkindliche Bildung ist sooo wichtig!) zu Barkarten umgebaut hat. Begeisterung allenthalben.

Allerdings auch hier wieder: tolle Idee, aber aufwendig und kaum nachträglich veränderbar.

QR-Code als die Unschärferelation der Bar

Da haben wir also beide recht, die Fernández und ich. Vermutlich handelt es sich bei dem Thema um so etwas wie die Unschärferelation der Bar. Ich sehe auch schon IPads mit Edelholzhülle vor mir und auf Chamoix-Papier gedruckte QR-Codes, und das wird dann ungefähr so authentisch wie ein Besuch bei Menschen, die ihre MP3s aus einem Fake-Grammophon heraus abspielen. Schwierig.

Ich bleibe dabei: eine Barkarte sollte nicht nur Namen, Preise und Zutaten kommunizieren, sondern die Bar auch in haptisch-sinnlicher Hinsicht darstellen. Wie alles andere auch: Kleidung, Mobiliar, Musik. Da ginge auch vieles, wenn nicht gar das meiste, kostengünstiger und praktikabler. Schaut dann halt scheisse aus, und deshalb macht man es nicht.

Aber was weiß ich. Vielleicht ist alles doch bloß eine Gewöhnungsfrage. Leider bin ich kein besonders begabter Gewöhner. Aber falls eines Tages doch der hübscheste QR-Code die Wahl zur Barkarte des Jahres gewinnen sollte, dann werde ich auf jeden Fall ebenfalls höflich applaudieren, wenn auch gemäß den Worten Friedrich Torbergs: „Der Beifall war endenwollend.“


 


 

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