Mit dem White Russian ist es wie in der Mode – nur weil etwas nicht mehr Haute Couture ist, verschwindet es nicht gleich aus den Geschäften. Drinks mit Sahne sind in der modernen Bar nicht sonderlich gefragt, aber als Guilty Pleasure ist der Drink unverwüstlich. Warum auch nicht? Er ist einfach zuzubereiten, charakteristisch, belebend – und schmeckt.
Die Feiertage sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Früher war das ganze Dorf auf den Beinen, wenn es ein Schlachtschüsselessen gab, heute musste das Wirtshaus entweder ganz zusperren, oder es hat sich den Zeitläuften angepasst und bietet bayrische Tapas an. Bayrische Tapas heißt, dass die Weißwurst klein ist. Keine Ahnung, ob es noch irgendwo Schlachtschüsseln gibt.

Aus der Zeit gefallen
Ist es ungerecht, den White Russian mit einer Schlachtschüssel gleichzusetzen? Manchmal wirkt er ein wenig aus der Zeit gefallen, und das ganz ohne Putin, was eventuell daran liegt, dass Sahne in der modernen Bar mit Anspruch ähnlich häufig anzutreffen ist wie Blue Curaçao und Eierlikör, und Milch auch nur, wenn damit geklärt wird. Schon allein der Name klingt nach frühem Sylvester Stallone; Farbbezeichnung plus nationalchauvinistische Verallgemeinerung aufgrund der verwendeten Basisspirituose. Glücklicherweise ist Russland aktuell sowieso nicht besonders empathiewürdig, ansonsten wäre das vermutlich ein Fall für die Bundesprüfstelle kulturelle Aneignung. Vielleicht liegt aber der Grund darin, dass wir nach dem Verzehr unserer „Freedom Fries“ keinen „White Ucrainian“ zu uns nehmen, schlicht in der mangelnden Relevanz – als würde man die D-Mark boykottieren.
Man weiß wohl nicht so genau, wann der White Russian zur Welt kam, ein Getränk wie aus der Feder von George R. R. Martin, aber es handelt sich wohl um die originelle Antwort auf den Black Russian, der als sahnelose Variante Ende der 1940er Jahre in den USA aufkam. Wir sprechen von den Anfängen der Vodka-Popularität – etwa zur gleichen Zeit wurde mit dem Moscow Mule ein weiteres, sehr erfolgreiches Instrument zur Marktdurchdringung lanciert, das auch nach ähnlichen Grundsätzen benannt war.
Die Anfänge des White Russian
Wann aber die Sahne den Drink von schwarz auf schwarz-weiß trimmte, bleibt unklar. Intuitiv könnte man tatsächlich das Schlachtschüssel-Zeitalter ansetzen, die Nachkriegszeit, als das Fett am Fleisch teils mehr geschätzt wurde als das Fleisch selbst. Kriege sind in vielerlei Hinsicht ein evolutionäres Korrektiv: Der Mensch offenbart sich in seiner zivilisatorischen Beschränktheit und wird im gleichen Atemzug wieder zu dem Jäger und Sammler, der durch die Stadt streift wie einst durch die Savanne, mit der obersten Direktive, keine einzige Kalorie auf dem Weg liegenzulassen, weil es ja die letzte sein könnte. Nun ist allgemein bekannt, dass man heutzutage kaum drei Meter weit gehen kann, ohne über einen Schokoriegel zu stolpern, aber in der Nachkriegszeit war das anders, und da kam man wohl auch auf die Idee, noch Sahne in den Cocktail zu kippen.
Der Dude, natürlich
Die große Zeit des White Russian ist vorbei, das ist offensichtlich. Es gibt immer wieder ein Zwischenhoch, meistens dann, wenn mal wieder „The Big Lebowski“ im Fernsehen kommt und der Dude seine Variante mit „half & half“ trinkt (Anfang 2023 wurde der Film 25 Jahre alt; White Russians allerorten). Immerhin ist der Drink zugänglicher als die Mauer aus Schnaps, gegen die unwissende Gäste knallen, wenn sie sich von einem neuen Bond-Film inspiriert fühlen und einen Martini bestellen.
Wird es sich der White Russian an der Oldtimer-Bar neben anderen abgerockten Cocktail-Legenden wie der Caipirinha und dem Mojito gemütlich machen müssen und sein Umfeld damit nerven, wie er früher die Massen begeistert hat, während auf der Tanzfläche der Espresso Martini den Ton angibt? Kann gut sein. Natürlich ist der Espresso Martini auch kein heuriger Hase, aber wie bei vielen Neophyten hat es eben ein bisschen gedauert, bis er, möglicherweise in einer vergessenen Thermoskanne auf den Kontinent eingeschleppt, in der freien Natur die adipöse einheimische Fauna verdrängt hat. Bestimmt liegt schon irgendwo ein Mate-Tee-Julep auf der Lauer, um sich zum neuen König des Dschungels aufzuschwingen.
Wo es Sahne gibt, ist der White Russian nicht weit
Trotzdem: Es ist wie immer in der Mode – wenn etwas nicht mehr Haute Couture ist, dann verschwindet es deshalb noch lange nicht aus den Kaufhäusern. Das Portal liquor.com reiht tatsächlich den White Russian auf Platz vier der aktuell (!) beliebtesten Drinks überhaupt ein, und, regionale Unterschiede mal beiseite, wird da schon was dran sein. Von der Avantgarde der Bars wird nicht verlangt, neben ihren Kreationen auch noch den gesamten Cocktail-Kanon über den Tresen schicken zu können (siehe die Currywurst-Theorie von Ruben Neideck), aber das bedeutet deswegen noch lange nicht, dass etwas aussterben muss. Um im Neideck-Bild zu bleiben: Manchmal muss es eben eine Currywurst sein, und dann geht man da hin, wo es eine gibt.
In der klassischen American Bar gibt es meistens nach wie vor Sahne und Milch, und das Schumann’s etwa verkauft natürlich nach wie vor noch eine Menge des Sahne-Klassikers, wenn auch mittlerweile deutlich weniger als den Espresso Martini. In Bamberg, das als Stadt über jede Cocktail-Kritik erhaben ist, gab sogar eine ganze Bar, die dem Drink gewidmet war, die Dude Retro Lounge, die allerdings vor Kurzem ihre Schließung angekündigt hat. Über zehn Varianten des White Russian gibt es da, die Preise und Aktionen auch auf ein studentisches Milieu ausgerichtet, so dass man nicht Gefahr lief, ein Frührentnerambiente ertragen zu müssen.
Der Drink gegen die Selbstoptimierung
Das Entscheidende ist: Der White Russian hat Eigenschaften, die ihm das Überleben auch in einem feindseligen Ökosystem sichern. Er ist einfach zuzubereiten, charakteristisch, belebend – und wohlschmeckend. Als Zubereitungsmethode haben sich mit der Zeit mehrere Varianten etabliert, nicht zuletzt natürlich deswegen, weil der „Dude“ im Film der Coen-Brothers alle Zutaten zusammen in einen Tumbler auf Eiswürfel kippt und mit dem Finger umrührt. Es empfiehlt sich aber, den Drink straight und mit einer aufgesetzten Schaumkrone zu servieren. Wie es Oliver Ebert aus dem Becketts Kopf einmal formuliert hat: „Man muss den White Russian durch die Sahne hindurchtrinken.“
Die überwiegende Anzahl weltweiter Geschmackspapillen identifiziert nach wie vor Fett als Geschmacksträger. Wenn man ihn vor dem Billigheimer-Schicksal bewahrt, das die Piña Colada einst befiel, dann sollte auch der White Russian noch lange unter Beweis stellen können, dass sein Gerüst die Zeit überdauert. Und dass man sich den immer mal genehmigen kann, wenn man grade keine Lust mehr auf Selbstoptimierung hat.
Oder auch nur, weil mal wieder „The Big Lebowski“ im Fernsehen kommt.